Heimkehr – Novelle

I

 

Er sitzt am Straßenrand. Es ist Herbst. Es fühlt sich zumindest so an: Ein Tag am Ende des Septembers, ein Tag am Anfang des Oktobers.

Er sitzt am Straßenrand und wartet auf den Bus. Er wartet. Auf einer alten Bank hat er sich hingesetzt. Man erkennt das satte Grün, die abblätternde Farbe, das Grün, das sich im Herbst verliert. Wie die Blätter. Er sitzt auf der Bank und wartet.

Man hätte die Bank neu streichen können, man hätte sich einfach grüne Farbe besorgen sollen und die Bank neu streichen können. Wer soll das machen? Er fragt nicht. Er sitzt einfach nur da und wartet. Er betrachtet das abblätternde Grün und sieht zu, wie sich die einzelnen Fetzen, die harten alten Fetzen der grünen Farbe, im Wetter verlieren. Er sitzt da.

Er schaut über einen weiten Platz. Ein Busbahnhof im Nirgendwo der Stadt. Hier ist er jeden Morgen angekommen, jeden Abend abgefahren. Er kennt den Platz – aus alten Zeiten. Grau ist er gewesen, grau ist er immer noch. Die Veränderungen haben nicht stattgefunden. Die Veränderungen haben kurz aufgelebt und haben sich dann verloren in den Wirren der Veränderungen der Veränderungen. Eine stete Dynamik, die sich in ihrer Statik verliert, ein Prozess, der sich an den Glauben hängt und sich alsdann in diesem verliert.

Vor ihm liegt ein großer Platz. Einbuchtungen, an welchen die Busse halten. Sie halten, aber sie nehmen niemanden auf. Sie wollen schon, aber sie können nicht. Die Menschen, die Reisenden, die Mitfahrenden sind rar geworden. Sie fahren nicht mehr mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, fahren nicht mehr in der Öffentlichkeit; sie müssen sich nicht mehr beobachtet fühlen, wenn sie einsteigen, sich in den Bus setzen und warten auf den Ausstieg.

Die Reisenden, die Fahrenden sitzen nicht mehr an der Haltestelle, sie fahren eigene Autos. Sie fühlen sich frei, fühlen sich verstanden, fühlen sich angekommen, irgendwie, aber sie sind allein, allein mit sich selbst, einem Lenkrad, einer Schaltung, einem Weg, einer kaputten Straße … Sie fühlen sich frei und sie schimpfen, dass sie sich frei fühlen. Er sieht sie, wie sie an der Haltestelle vorbeifahren. Er sieht die kleinen Autos, die großen Autos, Autos in einer Vielzahl; er sieht sie und er zählt sie und er bemerkt, dass er sich im Zählen verzählt hat. Der Wohlstand ist laut gekommen, denkt er sich, denn der Wohlstand hat das Auto gebracht, das große Auto. Er hat Mobilität gebracht, er hat das Auto gebracht und damit die Freiheit der Entscheidung, wohin man wann fahren will. Es gibt niemanden mehr, der über Orte und Zeiten bestimmt; sie setzen sich an das Lenkrad und fahren los und bestimmen, wohin sie wann fahren. Sie fühlen sich frei – und sind dabei aber so gefangen, dass sie nicht merken, dass sie Gefangene ihres eigenen Wohlstandes sind. Sie sind wohlstandsdeterminiert.

Er sieht sie. Er hört sie. Sie schimpfen über die Veränderungen; sie gehen ihnen nicht schnell genug, denn die Straßen ändern sich nicht so schnell wie die Geschwindigkeit ihrer Autos. Sie bemerken die Löcher, sie umfahren sie, bemühen sich darum. Und sie schimpfen, erst ein wenig, dann lauter werdend. Sie schimpfen sich den Wohlstand von der Seele und wissen nicht, warum sie schimpfen. Und er? Er sitzt da und er hört sie und er spürt ihre Wut, ihren Zorn: man habe doch mehr erwarten dürfen, man habe doch mehr erhalten dürfen. Und sie fahren einen Mercedes, einen Audi, einen BMW. Und sie schimpfen und schauen am Abend Farbfernsehen und dabei zwanzig Sender.

Aber sie schimpfen, denn sie fühlen sich verloren von der Veränderung. Sie bemerken sie nicht, die Veränderung, denn diese Veränderung hat sie entwurzelt, hat sie herausgerissen aus dem grauen Trott des Alltags, hat sie herausgerissen in eine Dynamik, der man nicht mehr Herr werden kann. Man kann sich nur an das Lenkrad setzen und fahren und hoffen, dass man ankommt, irgendwo und irgendwann.

Er spürt den alten vorgegaukelten sozialistischen Wohlstand. Hinter dem Busbahnhof sieht er die alten Gleise. Er hört die Züge, wie sie angefahren sind, abgefahren sind. Er spürt hinter sich das alte Bahnhofsgebäude. Und er sieht jetzt den Rost der Gleise, das Zerfallen des Gebäudes. Er sieht den Traum zerplatzen: Man habe den Sozialismus in diese Region bringen wollen, man habe ihn gebunden an die Gleise, verbinden mit dem Fortschritt der Eisenbahn. Und dann hat sich das Blatt gewendet und die Eisenbahn ist nicht mehr gekommen. Und jeder hat urplötzlich das Ausbleiben des sozialistischen Fortschrittes bemerkt; die Eisenbahn ist nicht mehr gekommen. Sie ist ausgeblieben, hat die Stadt vergessen, den Fahrenden vergessen.

Er selbst ist nie mit dem Zug gefahren. Er ist zu jung gewesen, um mit diesem Zug zu fahren. Er hat ihn gesehen, wie er eingefahren ist: einmal in jeder Stunde ist ein Zug eingefahren und hat die kleine Stadt mit der großen Welt verbunden. Niemand hat danach gefragt, ob eine Verbindung wie diese rentabel ist, ob sie finanzierbar ist. Der Zug ist eingefahren; meistens ist niemand eingestiegen, aber der Zug ist gefahren.

Der Zug ist kleinere Bahnhöfe angefahren: kleinere Städte, Dörfer, kleinere Dörfer, Siedlungen. Er ist sie angefahren, leer, aber angefahren und leer weitergefahren. Ein Schaffner steigt aus, gelangweilt, sieht sich um, ist nicht verwundert, pfeift an, steigt ein und der Zug ist weitergefahren. Von Städten zu Dörfern zu Siedlungen. Und so ist der Fortschritt gekommen und hat gezeigt, wie sinnlos der Fortschritt ist; er ist gekommen, um zu zeigen, wie leer Waggons sein können, zwischen einem Nirgendwo und einem anderen Nirgendwo.

Und der Wind weht, merklich. Ein monotones, ein nüchternes Feststellen des Zustandes, ein unfähiges Betrachten und Reflektieren. Der Wind weht und holt ihn zurück in diese gelangweilte Wirklichkeit. Er sitzt auf einer Bank, die ihr Grün verliert, inmitten einer Stadt, die immer grauer wird, wartend auf einen Bus, der nicht kommen mag. Er sitzt da und spürt den Wind auf seiner Wange und bemerkt ihn nicht wirklich, denn – er ist nicht wirklich da.

Ein wenig Staub wird aufgebwirbelt. Er merkt es. Ein wenig Staub. Im Herbst. Im Übergang zwischen September und Oktober. Er erkennt ihn kaum, den Staub, den Dreck, der aufgewirbelt wird. Er sieht ihn – irgendwie. Er wünscht es sich zumindest. Irgendwie.

Als er das erste Mal aus einem Bus stieg, schaute er sich nicht um. Er nahm den Bahnhofsplatz nicht, nahm die Busse nicht wahr, nahm nichts weiter wahr; er wurde mitgerissen von der Masse der Schüler, die den Berg hinauf drängte, hinauf in die Stadt, hinauf in die Schule. Er lief der Masse nach, ein Jungpionier, ein Erstklässler, ein Geführter. Er lief der Masse nach und bemerkte nichts weiter von der kleinen großen Welt, die ihn damals empfing.

Der Busbahnhof scheint heute größer zu sein. Seine Erinnerung täuscht ihn nicht; der Platz ist größer, wirkt leerer, wirkt breiter und verlassener. Es sind keine Gebäude mehr da, die seinen Blick aufhalten können; es sind keine Menschen zu erkennen, die seine Aufmerksamkeit einfangen können. Es ist nichts da. Der Platz ist größer; fast scheint es so, als wolle er einladen zu alten Paraden, zu alten Aufmärschen. Ein letzter Aufmarsch, er in seiner Pionierbluse, mit seinem Halstuch, seinem blauen. Und einem Marsch, der rot hat sein sollen, aber doch braun erinnert worden ist. Es hat niemand ausgesprochen; es hat niemand gesagt, aber alle haben es gedacht. Rot ist braun und jeder marschiert mit. Und er ist mit marschiert; und irgendwie marschiert er immer noch, in Gedanken. Den Gleichschritt unter den roten Nelken. Den Gleichschritt im Takt der roten Fanfaren. Er schreitet nicht, er marschiert, kräftig, nichts sagend, nichts denkend, nur marschierend, der roten Meute hinterher. Und der Platz lädt ihn ein und er glaubt, diejenigen zu sehen, die damals marschiert sind; sie fahren heute ihre Westautos und sind vorher noch marschiert.

Ungewohnt war der erste Fahnenappell. Ungewohnt stand er mit den anderen Schülern auf dem Platz, zwischen den Schulgebäuden. Und in der Mitte stand der Direktor, ein Parteisoldat. Er stand da und schaute sich um. Stramm sah er über eine gehorsamen Schüler, welche angetreten waren, ihm seine Macht zu verdeutlichen. Er stand in der Mitte des Schulplatzes und lächelte kaum. Ein roter Parteisoldat; sein brauner Schatten verlor sich im Staub des Schulhofes. Es war kein warmer Tag mehr. Es waren die ersten Tage im September und er stand da und wartete auf die Meldung. Er glaubte, es sei Krieg. Er sagte jedem, dass Krieg sei, denn er war derjenigen, der diesen Krieg zu führen gewillt war und der daran glaubte, fest und entschlossen, dass man diesen Krieg gewinnen werde. Nicht könne! Werde!

Er war überzeugt. Und so stand er da und wartete auf die Meldung der Gruppenratsvorsitzenden. Sie marschierten auf die Mitte des Platzes zu, nahmen Haltung an, als wären sie beim Militär, Schüler!, nahmen Haltung an und machten Meldung. Und er, der erste Diener des Sozialismus, stand da, und nahm die Meldung ab.

Er soll einmal bei der Truppe gewesen sein, soll einmal Soldat gewesen sein. Er glaubte, dem Feinde in die Augen sehen zu können, aber er sah nur die Kaserne und er hörte nur die Worte. Es wurde kein Krieg geführt, zu seinem Bedauern. Der faschistische Klassenfeind durfte weiterleben und er durfte lediglich seine Waffe putzen und warten. Er wartete. Bis er entlassen worden war. Sodann war er an die Schule gewechselt; und dort hatte er aus der Schule eine Militäranstalt gemacht, er hatte nicht viel machen müssen. Der Sozialismus hatte sie gleichgemacht und er hatte ihnen lediglich den militärischen Drill weitergeben müssen. Er hatte sie geformt, ein wenig; er hatte ihnen den Feind gezeigt, immer wieder, hatte sie darauf eingeschworen, gegen den Feind vorgehen zu müssen, wenn es der Staat und der Sozialismus von ihnen fordern würden. Er hatte sie eingeschworen, hatte diese Worte formelhaft immer wieder gesagt und keiner seiner Schüler hatte sie vergessen können. Keiner! Er hatte es ihnen immer wieder gesagt.

Und die, welche seinen Worten nicht glauben wollten, hatte er nicht zu überzeugen versucht. Nein! Er hatte sie verfolgt, hatte sie aufgesucht, sie gestellt, sie ausgeliefert. Einige waren nach Torgau gegangen, einige andere nach Dresden, nach Bautzen, nach Leipzig; einige waren in den Strick gegangen, Er hatte sie nicht gezählt, nicht bedauert, ihnen nicht nachgeweint; er hatte es zur Kenntnis genommen und den Sozialismus verteidigt.

Ein brauner Hügel zieht sich, links vom Busbahnhof, hinauf in Richtung Stadt. Die kleinen Gärtnersiedlungen, die verträumten Inseln der Glückseligkeit, existieren nicht mehr; dort, wo sie gewesen sind, ist jener nackte Hang geblieben, braun und dürr und … Er hat die Gärtner gekannt, die Hobbygärtner: er hat sie gesehen, sie gehört, im Frühjahr hat er sie gerochen, im Herbst hat er sie gerochen.

Er riecht nichts mehr. Nur den nackten Hang sieht er, wie er sich hinaufzieht, links, vom Busbahnhof hinauf zur Stadt.

Den Weg durch die Gärtnersiedlungen kennt er. Oft ist er ihn gegangen. Am Morgen und am Nachmittag. Morgens, wenn die Schüler und er hinauf zur Schule gegangen sind, wenn sie sich durch die Gärtnersiedlung geschlängelt haben; am Nachmittag, wenn die Schüler und er aus der Schule entlassen worden sind für den einen Tag, wenn sie zurück zum Busbahnhof gekehrt sind und die Busse auf sie gewartet haben.

Er lief immer der Masse nach und bemerkte nichts weiter von der kleinen großen Welt, die ihn damals empfing.

Er sitzt da und starrt zu den Bussen. Heute steht kein Bus mehr an der Einbuchtung, die Türen geöffnet, wartend auf ihn wie die anderen Schüler. Heute stehen sie da und stehen und stehen und … Sie stehen einfach nur da.

Im Winter war das Fahren in den Bussen behaglich und schön. Sie waren warm, zum Teil zu warm. – Im Sommer waren sie auch warm. Sie waren immer warm. Und ihm wurde immer schlecht, im Sommer und im Winter. Sie waren immer warm, immer zu warm.

Heute sind es nicht mehr die alten Busse, die warmen Busse aus Ungarn. Diese Busse sind weg. Wie die Zeit, an die er sich erinnert. Diese Busse sind weg.

Jetzt stehen andere Busse da, groß und geputzt und leuchtend und …, jetzt stehen da westliche Importwaren, Busse der Firma Mercedes, Busse, die allein schon deshalb fahren, weil sie aus dem Westen gekommen sind.

Es sind Busse wie andere auch. Aber es sind Busse aus dem Westen. Man sitzt jetzt auf harten Sitzen und man ist glücklich; die weichen Sitze sind vergessen. Man friert jetzt im Winter und man ist glücklich; die warmen Busse sind vergessen. – Es fühlt sich besser an, es fühlt sich westlich an, es fühlt sich nach dem Westen an, dem kalten Westen, dem harten Westen. Man fühlt sich frei und diese Freiheit ist kalt und hart und dunkel und macht glücklich. Und der Stern leuchtet nicht, denn der Stern ist nicht zu sehen.

Es war ein Tag, eigentlich kein richtiger Tag. Das Wetter war zu trüb; die Wolken nahmen das Licht. Es war Anfang Herbst und die Sonne war am Himmel. Irgendwo hinter den dichten, schwarzgrauen Wolken. Und er saß da, am Straßenrand, schaute über den Platz und es war Herbst und er wartete auf den Bus.

Es war eine Erinnerung an Zeiten, die man verdrängt hatte … Er saß da und es war Herbst, Ende September, Anfang Oktober. Es war eine Zeit des Dazwischen: Es war kurz vor dem dritten Oktober. Deutsche Einheit, Feiertag – und er saß da und konnte sich nicht freuen.

Er saß da und es war Herbst. Eine Wiederholung, monoton, einsilbig, traurig.

Der Wind wehte. Merklich. Er kündigte den Regen an. Es regnete nicht; es war lediglich eine Hoffnung darauf. Und der Wind wehte, und er wehte merklich auf. Er hatte gedreht. Wie so oft, wenn man glaubt, ihn verstehen zu müssen.

Die Blätter fielen von den Bäumen; er merkte es kaum, denn er saß lediglich da, einfach nur da, inmitten der sich wandelnden Natur, inmitten jener Zeit am Ende des Septembers, am Ende des Oktobers, inmitten eines Überganges, denn es war Herbst …

Warum feiert man den dritten Oktober? Ein Datum ohne Inhalt, ein Tag ohne Geschichte.

Er verstand nicht, warum man den dritten Oktober feierte. Er ertappte sich immer wieder dabei, dass er aus einem Automatismus heraus den siebten Oktober meinte, feiern zu müssen. Eine Angewohnheit, eine Erziehungsmaßnahme, der man sich in seinem Alter nicht entziehen hatte können: Man ist dann einfach der, der man geworden ist; man ist der, der man nicht sein will, aber sein muss.

Und er saß nur da und starrte und saß da – und es war Herbst und der Oktober nahte mit seinen Schatten. Der dritte Oktober und alle feiern irgendwie – und er saß da …

Um dieselbe Zeit ging er – ein zwölfjähriger – noch in die erste Oberschule. Es war ein herunter gekommener Bau; rote Ziegel an den jeweiligen Ecken, gefühltes Weiß der Unschuld; eine Vertuschung, eine Verdrängung, ein Verbrechen, ein Farbenspiel …

Er ging wie jeder andere Schüler in die erste Oberschule. Er konnte den Begriff weder buchstabieren noch niederschreiben, aber er ging in diesen Zwangsindoktrinationsbau. In die sechste Klasse.

Er war Pionier. Er war Sozialist. Kommunist war er auch. Er wusste nicht, was diese Begriffe bedeuteten – Klassenkampf, Klassenfeind – er wusste sie aber herauszuschreien, wenn man es von ihm verlangte.

Ihm fehlte es an Überzeugung. Er konnte diese Begriffe schreiben, aber allein der Glaube fehlte ihm, diese Begriffe andächtig zu fühlen, zu verinnerlichen, zu befolgen. Wer war sein Klassenfeind? Wer? Er fragte.

Niemand gab ihm eine Antwort. Hätte er damals schon ahnen können, dass er selbst der Feind war, dass der Staat in ihm den Klassenfeind erkannt zu haben meinte. Ein Feind, der feindlich dachte, weil er kindlich dachte; ein Feind, der feindlich handelte, weil er kindlich handelte. Er war der Klassenfeind – und er wusste nichts davon. Man sah ihn komisch an, aber er wusste nicht, dass er der Feind war. Er wusste es nicht. Niemand sagte es ihm. Man beobachtete ihn, ihn, den Feind des Sozialismus.

Heute saß er an der Haltestelle. Der Klassenkampf war vorüber; man hatte ihn nicht gewonnen, denn der faschistische Westen hatte den Osten übernommen. Man nannte es Rettung; die Roten nannten es die Rache der Geschichte. Er saß da und fuhr in diese Geschichte hinein, zurück in diesen Klassenkampf, zurück zu denen, die ihn zum Feind erkoren hatten. Er fuhr hinein in das ehemalige Kampfgebiet der Ideologien, er fuhr hinein in jenes verminte Gebiet, das Gebiet aus Beobachtung und Vertuschung, das Gebiet aus Verharmlosung und Gewalt, das Gebiet, in dem er sich auskannte, es aber nicht kannte, da ihm hierfür der Blick fehlte, das Verständnis, der Blick für das Verständnis. Er fuhr in das Kampfgebiet der Geschichte zurück und er erkannte es und kannte es jetzt, denn jetzt sah er es mit anderen Augen; er sah es und betrachtete es und bemerkte, dass er es anders sah, es sehend fühlte. Und es schmerzte ihn.

Er saß da und die schwarzgrauen Wolken zogen sich zusammen. Er saß da und betrachtete die neuen Busse. Und er fühlte sich schmerzlich berührt von diesem Ort. Er saß da, inmitten des Kriegsgebietes, inmitten jener Zone, in welcher der Klassenkampf tobte. Lehrer, die ihre Schüler einimpften, den Feind des Sozialismus zu benennen, anzuzeigen, nicht zu überzeugen, sondern zu bekämpfen, zu vernichten. Ein Feind bleibt ein Feind, bleibt immer ein Feind: Er saß da und er hörte es und er saß da und er war mitten in jenem Gebiet und er saß da und inmitten jenes Gebietes überfiel in das Grauen des Klassenkampfes, das Grauen, welches aus Kindern Gerechte und Ungerechte werden ließ, da ein Lehrer diese schied, eine Ideologie diese trennte – und er, derjenige, der jetzt zurückfuhr, nur dasaß und saß und wartete und sah und hörte und nichts dergleichen machen konnte. Er saß da und sah niemanden und sah den Bus, und nichts mehr. Nichts weiter mehr als der Augenblick der Auflösung aller Kämpfe, der Augenblick der Auflösung der Geschichte in der Erinnerung an diese Zeit, der Erinnerung an eine Zeit, in der er der Feind war.

Wie schmerzlich muss ihm bewusst sein, dass die Geschichte sich nicht auflösen wird, dass sie auch, trotz der Erinnerung und der Gegenerinnerung, immer bleiben wird, immer siegen wird. Die Geschichte ist ein grausames Wesen, denn die Geschichte schreibt nichts vor, schreibt nichts nach, bleibt einfach und verläuft und stellt sich am Ende sarkastisch auf ein Podium und urteilt ab, sarkastisch, ironisch, wertend. Die Geschichte ist ein Mörder der Erinnerung, ist ein Mörder, ein psychologischer Serientäter, der nichts Besseres zu tun hat als die Erinnerung aufzulösen in einem grausamen Gefühl der Gleichgültigkeit.

Er konnte nicht daran glauben. Glaube und Krieg, Geschwister im Menschen. Er konnte nicht glauben. Und weil er nicht glauben konnte, fiel er auf. Er sah den Lehrer an und fragte: Er fragte nach den Gründen des Klassenkampfes, fragte nach den Ursachen, der Notwendigkeit. Er fragte nach den Entscheidungen, nach den Überzeugungen. Er hinterfragte das System des Glaubens und wurde wahrgenommen als Antichrist des Systems, als Satan, welcher seine dreckige Hand nach dem Paradiese ausstreckte. Er fragte nur.

Und wie er fragte, wusste er nicht, was diese Fragen bedeuteten. Woher auch? Er fragte. Wie Kinder fragen, wenn sie verstehen wollen.

Er wollte verstehen, warum er kämpfen müsse für etwas, was er nicht wollte: Kohlenstaub und Kohlendreck im Frühjahr und im Herbst, kalte Stuben, Müllhalden, Dunkelheit. Er wollte wissen, warum er dafür kämpfen müsse. Und man antwortete ihm, dass dieses Paradies zu verteidigen der Auftrag des Jungpioniers sei. Und er fragte, warum ein Pionier diesen Dreck verteidigen müsse. Er sagte nicht Dreck, aber er sah die heruntergekommenen Gebäude, die Löcher in den Straßen, den Gestank in den Städten, er sah das fallende Laub, das verkommene Leben, er sah es und fragte, warum man diesen Dreck verteidigen müsse.

Und man schaute ihn an und erschrak, sprach doch hier der Klassenfeind in kindlichen Zungen.

Die anderen konnten die Begriffe verinnerlichen, obschon sie zur damaligen Zeit nicht ahnen konnten, aber davon träumten, dass, falls einmal ein Krieg ausbrechen würde, ihr Pionierdienst an der vordersten Front gefordert sei, an der Front gegen jeden Feind des Sozialismus, neben der NVA und der Grenzpolizei …

Hatte er ahnen können, damals bereits, dass der Krieg im Klassenzimmer tobte: Er gegen die braven Pioniere, gegen diejenigen, die sich sammelten in den sozialistischen Schützengräben …

Eine kindliche Vorstellung, eine Phantasie, ein Totengericht, dessen Folgen niemand verstand; danach wurde auch nicht geschaut, sondern einfach nur danach, dass man nur kräftig gegen den Klassenfeind agiere; ob derselbe dabei auch ein Mensch sei, war erst einmal irrelevant, denn jener Mensch, wenn er denn einer sei, habe die Möglichkeit gehabt, sich entscheiden zu dürfen. Und er hat sich falsch entschieden. Eine recht einfache Logik, die einleuchtend und dadurch zwingend zu befolgen war.

Ein Missachten dieser Logik hätte zur Folge, dass man die Arbeiter und Bauern verrate, seine Eltern auch, sich vor Staat und Vaterland blamiere und insgeheim sich selbst verrate – obschon man nicht genau wusste, was ein Selbstverrat eigentlich bedeutet hätte. Man wusste nur, zu sagen, dass der Verrat an der Sache der Verrat an der Person war – und dass man weder die Sache noch die Person verraten wollte.

Verrat? Noch heute versteht er das Wort nicht. Kann man jemanden verraten?

In seinem monotonen Wesen saß er da und betrachtete das Elend seiner Welt.

Er hatte einen Brief seines Vaters erhalten. Darin hatte der Vater ihn darum gebeten, dass er nach Hause komme, dass man sich ausspreche, dass man über diese Zeit spreche und die Entscheidungen, die man zu treffen gehabt hatte. Er wolle es sich nicht einfach machen, wolle sich nicht hinausreden aus seiner Verantwortung, aus seinem Verrat gegenüber seinem Sohn. Er wolle nur erklären, wolle um Verzeihung bitten.

Was bedeutet Verrat? Kann man verraten? Ja, man kann. Und er hielt den Brief seines Vaters in den Händen und der Vater bat ihn um ein Gespräch und er merkte an der Handschrift, wie schwer es ihm gefallen sein musste, die richtigen Worte zu finden, die Worte, die ausdrücken sollten, wie es ihm gegangen sei, als der Sohn abgehauen sei, nach der Wende … Er nannte es Umbruch! Der Vater blieb in der Sprache seiner Eltern. Er nannte es Umbruch und der Vater bat ihn um ein Gespräch und bat und zitterte dabei und bat ihn um ein klärendes Wort – und er kämpfte mit den eigenen Worten und kämpfte und bat. Und er hoffte auf die Einsicht des Sohnes in die Besonderheit der Zeit, die Besonderheit der Situation. Und er hoffte darauf und er fand zum Glauben zurück, zu Gott, den er für tot erklärt hatte … Er, der überzeugte Marxist, fand in der Not der Stunde des Briefeschreibens zu Gott zurück und bat ihn, dass er ihm seine Hand führe, dass er die richtigen Worte finde.

Er hat sie gefunden, denn der Sohn kam zurück. Er saß da und wartete auf den Bus. Er saß da und fuhr zurück in Feindesgebiet, in Kriegsgebiet – zu einem klärenden Gespräch, das nichts klären kann. Er fühlte sich verraten; aber das Gefühl verfolg in dem Nichtgefühl des Gefühls, denn er fühlte nichts. Ihm war es gleichgültig.

Als er ging, es war die Zeit, als er zum Studium hinauszog, als er ging, sah er zum Vater zurück und ahnte um das, was er herausfinden würde. Er fand es heraus und fühlte sich verraten. Und er fühlte nichts mehr, denn um ihn herum brach die Welt zusammen. Die Akten vor ihm stapelten sich, die Handschrift des Vaters, die Handschrift des Verrats. Er erinnerte sich seiner Gespräche mit dem Vater, er las sie dokumentiert den Akten, er las und fühlte sich zu Hause in einer Zeit, die verflogen schien. Sie holte ihn ein und brandmarkte ihn als Opfer, als das er sich nicht fühlte. Er fühlte sich verraten und gleichwohl merklich geborgen, denn er lebte die Gespräche neu nach, er lebte sie, er sah sie, er hörte den Vater, wie er mit ihm redete und ihm zuredete und ihm Mut machte.

Und er verwickelte sich in die Sprache des MfS. Er verlor sich in den kindlichen Erinnerungen. Er las sie und verlebendigte sie vor seinen Augen. Den Vater sah er, den jungen Vater, den dynamischen, wie er mit ihm Fußball spielte, mit ihm den Bach staute, mit ihm auf den Teich ging, im Winter. Er las es und fühlte sich … Und fühlte nichts.

Er hielt den Brief des Vaters in seinen Händen und bemerkte die zittrige Handschrift seines Vaters, seines Verräter. Er fragte sich, wie er ihm entgegentreten sollte und er fragte sich, was er ihm sagen sollte. Er fragte sich viele Dinge. Aber eigentlich fragte er sich nichts.

Den Brief öffnete er. Schreibmaschine! Gleichsam eine Seite aus seinen Akten. Eine Ohrfeige? Keine Ohrfeige, sondern das Zeichen der größten Unsicherheit. Das Bemühen um das Gespräch, das Hoffen auf Vergebung, das Hoffen auf Erklären, das Hoffen … Es ist die Rückkehr zum Glauben, es ist eine Rückkehr in die Anfänge des aufrechten Ganges, so will man es meinen. Der Vater wartete auf seinen Sohn und wollte ihm erklären, warum er das getan hatte.

Kann man das erklären? Man kann, aber Verrat bleibt Verrat. Erst, wenn man über den Verrat, das Gefühl des Ausgeliefertseins hinaus dringt, kann man sich dem Zustand der absoluten Starre stellen, kann sich einer neuen Bewegung hingeben, einer Bewegung der Verzweiflung.

Aber er saß nur da und wartete. Er war nicht über dieses Gefühl hinweg gekommen; er war noch immer in dem Zustand gefangen, zu fragen, was man fühlten sollte. Darf man den Vater seine Vaterschaft absprechen? Darf man dem Vater sagen, dass man ihn nicht mehr als Vater sehe, nicht mehr als Vater wahrnehme? Was passiert dann mit den Erinnerungen, den gemeinsamen Handlungen in der Geschichte, in der Verwicklung einer Episode. Was geschieht mit sich selbst. Gibt man sich nicht selbst auf? Gibt man sich nicht hin einer ausweidenden Henkersverzweiflung, einer Verzweiflung, die dazu führt, alles Geschichtliche, alle Erinnerungen aufzugeben, zu töten, weil man aufgrund des eigenen Misstrauens der eigenen Vergangenheit nicht mehr zu trauen wagt?

Tötet man die eigene Vergangenheit, tötet man sich selbst; tötet man sich selbst, kommt man an; kommt man an, ist man tot. Es ist der Widerspruch der Geschichte, der Widerspruch der Erinnerung an die eigene Verwicklung in einem System des Schuldigwerdens. War er denn unschuldig.

Und er betrachtete neuerlich den Brief.

 

Der Text wird fortgesetzt und weiter bearbeitet. Sofern Sie mit dem Autor debattieren wollen, sofern Sie eigene Ideen haben und diese einbringen möchten, dann melden Sie sich über die Kontakte des Vereins.

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