„Ein grauer Tag im August“ – Radiobeitrag

Über Freiheit nachdenken …

Theaterstück „An einem grauen Tag im August“ im Gedenken an den Mauerbau 1961

Tobias Pohl, Vorsitzender des Vereins „Aufarbeitung der Geschichte der DDR“

Vorsichtig kamen die ersten Bürger in jenen Abendstunden an die innerdeutsche Grenze: Eine grell erleuchtete Grenze, aufmerksames Grenzpersonal … wie immer. Nichts blieb den Grenzern verborgen: Jeder, der die Absicht hatte, fliehen zu wollen, würde durch die verzwickten Repressionsme-chanismen der unüberwindlichen Grenze entdeckt werden; ein Verstecken, ein heimliches Fliehen schien nicht möglich zu sein …

An jenem Tag aber war es anders: Die Worte Schabowskis vor den Ohren der Welt hallten noch nach. Erste vorsichtige DDR-Bürger traten aus den dunklen Schatten ihres Daseins heraus und näherten sich der unbezwingbaren Grenze: Verwundert, neugierig – aber langsam.
Zuvor griff Schabowskis Hektik um sich; die journalistische Neugier des Auslands fragte nach und er kramte, schnell, unsicher, nervös. In einer überforderten Blindheit begann er: „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt.“ Er schaute in die Runde … Die Penetranz der versammelten Berichterstatter, jene Worten nicht verstehend, bohrte nach … Und er, der Totengräber des SED-Regimes, stotterte, atmete kurz und stotterte noch mehr: „Sofort und unverzüglich!“.
Sofort und unverzüglich … Sie brachen hinaus, diese Worte des SED-Regierungssprechers; sie brachen hinaus, zerbrachen das Symbol der Diktatur der SED. Die ersten Bürger kamen … Es war Nacht, es war der 9. November 1989. In einem Moment der Hoffnung auf der einen Seite, in einem Augen-blick der alleingelassenen Verzweiflung auf der anderen Seite ließ Harald Jäger, stellvertretender Leiter des DDR-Grenzüberganges Bornholmer Straße, den Schlagbaum hochfahren, ließ die Bürger der DDR durch den nun geöffneten Todesstreifen hindurch. Und es fiel kein Schuss.

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Denkt man an jene geschichtsträchtige Zeit zurück, erinnert man sich an diesen fast schon sakralen Moment, als die Menschen sich jubelnd in die Arme gefallen sind, weil das SED-Regime mit der Öffnung der Mauer seinen Schrecken verloren hat, dann bemerkt man das Magische der Freiheit, den Wert jenes Abstrakten, wie es sich Raum greift in dem Augenblick, in dem es Fesseln aufsprengt, Mauern zerstört und den Menschen atmen lässt. Aus Geschundenen, aus Unterdrückten, aus Leidenden werden Menschen, aus Gegängelten, aus Entmündigten, aus Gefesselten werden Menschen; sie gehen nicht nur, sie atmen nicht nur, sie stehen auf und ergreifen das, was sie Le-ben nennen. Sie werden sicht- und hörbar, fühlbar neu geboren: Solch ein Gefühl von zutiefst empfundener Menschlichkeit im Augenblick des Abschüttelns jener alter Strukturen, solch ein Ge-fühl berührt den Menschen in sich selbst, lässt ihn unendliches Glück spüren und unbedingte Dankbarkeit empfinden.
Um dieses „gottähnliche“ Gefühl zu verstehen, muss man wissen, dass solch beschriebener Vor-gang für Bürger der DDR bis dahin nicht selbstverständlich gewesen ist. Noch Tage zuvor wurde die Berliner Mauer akribisch bewacht, wurde jeder illegale Grenzübertritt verhindert, jeder Republik-flüchtige gefasst, verurteilt – oder aber erschossen. Noch Tage zuvor war die Welt der Diktatur, die Welt von Harald Jäger, in Ordnung, war diese Welt grell erleuchtet, lauernd, übergenau – und grau: Man bewachte das Symbol des Unrechts, verhinderte alle ungesetzlichen Grenzübertritte, beteiligte sich am blutigen Handwerk der Diktatur: Grenzverletzer seien festzunehmen oder zu vernichten, so der mündliche Befehl. Noch Tage zuvor funktionierte die Diktatur an ihren Grenzen!
Diejenigen, die schossen … Haben sie daran gedacht, dass sie einen Menschen erschießen? Hat man ihnen gesagt, dass sie einen Menschen erschossen haben, einen, der sich lediglich ein Leben in Freiheit gewünscht hat? Einen Menschen, der von Freiheit geträumt hat, von einem selbstbestimmten Leben, einem mündigen … Einen Menschen!
Nein, man hat sie belobigt, ihnen gesagt, dass man einen Feind der Republik vernichtet habe, ihnen gesagt, dass man nichts Falsches getan habe … Man hat sie sogar belobigt!
Solches muss man sich immer wieder bewusst machen: Diejenigen, die in der DDR gelebt haben, in ihr gelitten haben, diejenigen, die sich nach einem Leben in Freiheit gesehnt haben, diejenigen haben die Mauer gesehen und damit die Grenze ihres kümmerlichen Daseins wahrgenommen. Nicht mehr!
Wie viel haben sie alsdann erkennen dürfen, als man in jener Nacht die Grenze geöffnet hat? Wie viel haben sie sehen und hören, wie viel haben sie weinen und lachen, wie sehr haben sie ausbrechen und aufbrechen dürfen … Sie, die in jener Nacht über die Grenzübergänge gegangen sind, sie haben sich nicht nur frei gefühlt, sondern sind in der Freiheit aufgegangen, in ihrer Befreiung aus diesem Staat der Enge hinausgewachsen. Sie haben angefangen, zu leben! Welch ein großartiges Gefühl, welch erhabene Empfindung: einstmals einfache Unterdrückte lassen das Drückende hin-ter sich, greifen nach den Dingen, die ihnen bis dahin verwehrt gewesen sind, und beginnen zu leben.
Gleichwohl stellt man ernüchtert fest: Heutzutage scheint der Wert der Freiheit in Vergessenheit zu geraten. Ein Zeitzeugen hat einmal gesagt, dass man die Freiheit nur dann verstehen, gar vertei-digen könne, wenn man sich an die Tage erinnere, in denen die Freiheit gewünscht worden sei, aber nicht habe gelebt werden können. Freiheit verstehen, gar verteidigen. Jenes wertvolle Gut – die Freiheit eines Menschen gegenüber anderen Menschen und gegenüber einem Staat – jene Freiheit zu verstehen, setzt voraus, dass man sich mit den dunklen Stunden der eigenen Geschichte auseinandersetzt: Es setzt für uns Deutsche voraus, dass man sich der deutsche Diktaturvergangenheit stellt, nicht nur über diese rede, sondern diese vielmehr erfahre, erspüre, fühle – und be-weine.
Folglich möchte ich Sie bitten: Wenn Sie den Wert von Freiheit verstehen wollen, dann besuchen Sie das Theaterstück „Ein grauer Tag im August“: Es erinnert an den Mauerbau in der DDR vor 55 Jahren: Eine Mauer, die von da bis 1989 an als Symbol der Unterdrückung und der Repression, als Symbol des Unrechts gilt! Sie begleiten an diesem Abend die fiktive Familie Müller durch Berlin vor dem Mauerbau. Sie erleben die gesamt Tragik jener Situation, in welcher ein einfacher Mensch einsehen muss, dass seine Welt nicht mehr funktionieren kann und er nur noch scheitern muss. Sie sehen Müller leben und scheitern, für sich und für viele in der DDR!
Als Vorsitzender des Vereins möchte ich Sie an diesem Abend begrüßen und mit Ihnen ins Gespräch kommen: Ich möchte mit Ihnen über das Stück sprechen, das Schicksal der Protagonisten beweinen und mich dabei mit Ihnen über den zentralen Wert der Freiheit austauschen. Besuchen Sie eine der Vorstellungen!
Das Stück wird am Matthias-Grünewald-Gymnasium in Würzburg gespielt, jeweils am 18. und am 19. November, Beginn um 18.30 Uhr. Um Voranmeldung über den Verein (kontakt@aufarbeitung-wuerzburg.de) wird gebeten.

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